(Der Beitrag von Jochen Schmidt war zugleich der Gastvortrag bei der Überreichung der digitalen Festschrift. Einen Mitschnitt des Vortrags können Sie hier anhören [Anm. d. Hg.]):

1996 bekam ich an der Humboldt-Universität eine Stelle als studentische Hilfskraft bei Professor Kattenbusch. Das Bewerbungsgespräch fand in einem leeren Raum mit schwarzem Bakelit-Telefon statt, seinem provisorischen Büro. Er litt noch unter dem Ost-Berliner Braunkohledunst, der mir bis dahin gar nicht aufgefallen war. Ich hatte noch nie ein monatliches Einkommen gehabt, und jetzt gleich für zwei Jahre, das bedeutete ja finanzielle Sicherheit bis fast zur Rente. Andererseits hatte ich auch noch nie regelmäßig arbeiten müssen und dafür auch gar keine Zeit. Im Winter ging die meiste Zeit fürs Heizen meines Kohleofens drauf, und im Sommer musste man ja die Welt sehen. Schließlich war die Wende noch nicht lange her, und da ich seitdem studierte, blieben nur die Semesterferien für Weltreisen. Hatte man Geld, hatte man keine Zeit, hatte man Zeit, hatte man kein Geld, dieses ökonomische Grundgesetz hatte wahrscheinlich schon Marx irgendwo beschrieben.

Jochen Schmidt - Portrait


Jochen Schmidt, Autor, Journalist, Vortragskünstler. 1996–2000 studentische Hilfskraft am Lehrstuhl von Dieter Kattenbusch, dabei Mitarbeit am Projekt VIVALDI.

Professor Kattenbusch interessierte sich für Dialekte und Minderheitensprachen, das schien mir ein guter Weg. Man musste sich ja spezialisieren in dieser Welt, Experten waren gefragt. Ich musste mir irgendeine romanische Minderheit suchen, die bisher übersehen worden war, und dann würde ich mein Leben lang davon zehren. Professor Kattenbusch versuchte dann auch immer wieder, mich für Feldforschung auf eine Karibikinsel zu schicken, wo ein legendärer bretonischer Pirat eine Population begründet hatte, und einen einzigartigen Kreol-Sprachmix zwischen altem Französisch, Englisch und den Sprachen der einheimischen Bevölkerung. Aber es zog mich nicht in die Karibik. Was ich noch nicht wusste, war, dass ich mich für Osteuropa zu interessieren begann. Die DDR hatte ja 19 Jahre lang erfolgreich verhindert, dass es dazu kommen könnte, aber nun lernte ich die ersten Westdeutschen kennen, die freiwillig Russisch lernten. Das öffnete mir die Augen.

Ein anderes Projekt war, mich nach Sizilien zu schicken, ins Osteuropa Italiens. Dort gab es sogar noch albanische Sprachinseln. Frühere Romanisten haben dort mit der Vespa lange Reisen unternommen und Dialektforschungen betrieben. Inzwischen war aber eigentlich alles Wichtige erforscht, man konnte immer irgendwo nachschlagen. Außerdem war nicht zu sehen, wie man sich aus der Kenntnis sizilianischer Dialekte eine Existenz aufbauen könnte. Unsere Ellenbogengesellschaft hatte ihre eigene Einstellung zu den Geisteswissenschaften. Wenn ich meinem Bruder von meiner Begeisterung fürs Altfranzösische erzählte, sagte er: „Können die Franzosen das nicht selbst erforschen?“

Ich begann zu bedauern, dass ich mein Studium so falsch angegangen war, inzwischen war ich mit Mitte 20 für größere Sprünge schon zu alt. Man müsste die Romanistikstudenten im ersten Studienjahr in vier Länder der Romania schicken, jeweils drei Monate, das reicht, um eine Sprache zu lernen. Danach könnte das Studium beginnen. Ich war entschlossen, alle romanischen Sprachen halbwegs zu beherrschen, bevor ich mich der Prüfung stellen würde. Ich hätte es als peinlich empfunden, dem Prüfer in irgendeiner Frage unterlegen zu sein. Die Ansprüche waren hoch, ich hatte immer noch die Hausarbeit eines Studenten vor Augen, in der Professor Kattenbusch ein überflüssiges Leerzeichen angestrichen hatte.

Professor Kattenbusch schenkte uns immer Exemplare seiner Publikationen, die er in großen Kisten im Büro lagerte. Im Laufe seiner Forscherbiographie arbeitete man sich an immer spezielleren Fragen ab, man promoviert über das Ladinische und habilitiert sich über das Sella-Ladinische. Aber ich hatte doch noch nicht mal den groben Überblick. Und ich interessierte mich ja nicht nur für die romanischen Sprachen, sondern auch für Literatur, Kino und fußballhistorische Forschungen. Und nebenbei gab es ja auch noch ein äußerst aufreibendes Privatleben mit einer Nicht-Romanistin. Man hätte eigentlich in der Uni wohnen müssen, um Zeit zu sparen, aber ich war auch nicht in der Lage, mir eine andere Wohnung zu suchen, dafür war der Tag einfach zu kurz. Außerdem hätte ich dann meinen DDR-Mietvertrag aufgeben müssen, und das wäre mir in der gegenwärtigen politischen Situation unklug erschienen. So blieb es bei den täglichen Fahrradfahrten vom Prenzlauer Berg zur Humboldt-Uni, selten war ich pünktlich, Unfälle waren an der Tagesordnung, die neuen Fahrzeuge passten noch nicht zu den alten Verkehrsregeln. Eine Ortlieb-Tasche hatte ich noch nicht, ich schnallte meine tschechische Ledertasche, die ich schon in der Schule benutzt hatte, umständlich mit Fahrradspinnen am Gepäckträger fest, die Tasche war oft so voll, dass ich sie kaum zubekam.

Abb. 1: Berge in Ladinien

Berge in Ladinien

Wir bereiteten dann eine Exkursion nach Südtirol vor, ins Gadertal, wir würden dort eine romanische Minderheit besuchen, die seit der Römerzeit immer noch ihre Sprache sprach. Das mussten ja störrische Menschen sein, ganze 30.000 gab es noch von ihnen. Was ich mir erst langsam bewusst machte: Ich gehörte inzwischen schon selbst zu einer Minderheit, als Ost-Berliner im Prenzlauer Berg, als geborener Berliner in Berlin, als Student der HU, der noch in der DDR immatrikuliert worden war, und als Romanistik-Student, der sich für sein Fach interessierte. Im Büro nahmen wir Sprachunterricht bei Professor Kattenbusch, während Studenten anklopften, die mit rhetorischem Geschick ihre Prüfungsfragen herausbekommen wollten. Eine neue Generation.

Wir fuhren mit dem Nachtzug, ich sah zum ersten Mal München, wenn auch nur den Hauptbahnhof. In Bozen gefiel mir ein Triumphbogen auf der Piazza della Vittoria, ich wusste nicht, dass er auf Mussolini zurückging. Ich fotografierte ihn vor dem Hintergrund des Gebirges, in schwarz-weiß, mit der Practica MTL3 von meinem Vater, neuerdings bildete ich mir ein, hochwertige Fotografien anfertigen zu müssen. Ich hatte mir eine rote Glühbirne und einen Apparat zum Entwickeln der Bilder gekauft, es wurde auch Zeit, denn die Digitalfotografie stand kurz vor ihrem Durchbruch.

Abb. 2: Triumphbogen auf der Piazza della Vittoria, Bozen

Triumphbogen auf der Piazza della
				         Vittoria, Bozen

Ich hatte noch nie so saubere Dörfer wie in Südtirol gesehen, die Äpfel wurden anscheinend noch am Baum einzeln poliert, und die Tiere trugen in den Ställen Hausschuhe. Wir wohnten in einer Pension in den Bergen, der Professor ging jeden Tag laufen, zu meiner 10-km-Zeit von 45 Minuten sagte er, das sei ja nicht sehr schnell. Die weiblichen Exkursionsteilnehmer wollten immer unter Sonnenschirmen sitzen und Espresso trinken. Der schmeckte besser als in Berlin der bittere Bürokaffee aus der Kaffeemaschine, der morgens gebrüht und bis abends warmgehalten wurde.

Abb 3: Heuträger

Heuträger

Im Bus hörten wir alte Frauen Ladinisch sprechen, aus der Theorie wurde Praxis, wir waren so euphorisch, als wären wir zum ersten Mal einem vergessenen Indiovolk begegnet. Wir machten eine Wanderung, auf der wir alle Blasen bekamen, und die in nichts zu unseren dialektologischen Kenntnissen beitrug. Wir besuchten ein Institut, in dem man Wort für Wort das Wörterbuch durchging und nach Kompromissen für eine gemeinsame Sprachvariante für die ladinischen Dialekte suchte. Das Ladinische war zwischen verschiedenen Tälern zersplittert, Fassatal, Grödnertal, Gadertal. Überall schenkte man uns eigene Übersetzungen von „Der Kleine Prinz“, in jeder Varietät des Ladinischen eine. Wenn eine Gruppe das „e“ etwas offener aussprach als die andere, waren beide der Meinung, gar nicht die gleiche Sprache zu sprechen. Ich kannte das aus Ost-Berlin, wo ich mich zunehmend an den sich durchsetzenden Sprachgewohnheiten der aus dem Westen Zugereisten störte, die kleinen Unterschiede sind oft viel auffallender als die großen.

Abb 4: Prozession

Prozession

Auf einer Alm trugen alte Frauen riesige Heubündel auf dem Rücken. Man musste regelmäßig mit speziellen Schubkarren die Erde wieder den Berg hochbewegen, weil sie vom Ackerbau mit der Zeit immer runterrutschte. Während die Felder der abgewickelten Brandenburger LPGs aus Verlegenheit mit Raps und Sonnenblumen bepflanzt wurden und ABM-Kräfte mit Händeklatschen die Krähen verscheuchten. Zufällig gerieten wir in eine Prozession, ein Engel wurde von Menschen in schwarzen Anzügen herumgetragen, hier war ja wirklich noch Mittelalter. Ich machte das Pressefoto des Jahres von einem weiß gekleideten Mädchen mit Brille, aber leider mit einer MTL3.

Ich blieb weitere zwei Jahre bei Professor Kattenbusch, das Ziel, die Rente, rückte in noch greifbarere Nähe. Ich schrieb keine Arbeit über das Ladinische und auch keine über Sprachvergleich anhand von Medikamentenbeipackzetteln. Dafür versuchte ich, meine 10-km-Zeit zu verbessern, im Geist rannte ich immer gegen Professor Kattenbusch. Ich bereitete mich auch auf meinen ersten Marathon vor, damals war das noch kein Lifestyle-Phänomen. Die Arbeit im Büro veränderte sich, das Internet setzte sich durch. Man suchte noch mit so etwas wie Lycos oder Altavista nach Dingen, die Romanisten interessieren könnten, oder, mit weniger Erfolg, nach Nacktbildern von Winona Ryder. Unser Computer hatte zwei Gigabyte Speicherplatz, inzwischen würde er in jedes Handy passen.

Abb 5: Mädchen im weißen Kleid

Mädchen im weißen Kleid

Ich machte einen Russischkurs in Moskau und lernte dort eine Bulgarin kennen. Ich folgte ihr nach Bulgarien und lernte, so gut ich konnte, Bulgarisch. In diesem Land war meine Vergangenheit noch lebendig. Das Bulgarische, so hätte Goethe gesagt, erschien mir als eine lustige Abart des Russischen. Ich machte zwei Polnischkurse in Krakau, ein alter Traum, etwas vom Geheimnis dieser Zischlautsprache zu lüften. Es war wie in der Romanistik: Die slawischen Sprachen waren wie Geschwister, und jede hatte ihre eigenen Nachbarsprachen, die man besser mitlernte, wenn man die Feinheiten des Wortschatzes verstehen wollte. Ich ging zwei Monate nach Sarajevo und paukte das dortige, mit türkischen Begriffen gewürzte Serbokroatisch, jetzt fehlten mir nur noch Slowenisch, Tschechisch und Slowakisch. Ich holte das Latinum nach, wie sollte man sonst Romanist sein? Das Graecum ergab sich aus den Fragen, die die Balkansprachen aufwarfen. Beides wäre im Westen sicher Abiturstoff gewesen. Ich machte einen zweiten Russischkurs in Moskau, dann einen in Kaliningrad, wo ich das Geburtshaus meiner Mutter aufsuchte, und einen in Minsk, es gab ja auch noch Weißrussisch! Immer noch war ich dem Institut eine Magisterarbeit schuldig.

Aber das waren alles erst die Grundlagen für ein Romanistikstudium, so empfand ich das. Man musste ein guter Slawist sein, um sich ans Rumänische zu wagen. In Jena gibt es in jedem Frühjahr einen Rumänisch-Intensivkurs, ich nahm sechs Mal teil, und ich beneidete die Studenten dort, die eine mehrstöckige Präsenzbibliothek mit Blick in den Wald hatten, während wir in Berlin noch mit einer Art Kammer begonnen hatten, in der man Zettel ausfüllte, um Bücher zu bestellen, von denen man drei Tage später erfuhr, dass sie gar nicht da waren. Wenn ich in Jena mit dem Studium begonnen hätte, rechnete ich mir aus, dann wäre ich längst promoviert. Außerdem konnte man nur hier Rumänisch lernen, während die Rumänistik in Berlin immer mehr verkümmerte. Und Rumänisch war die Krönung von allem, die einzige romanische Sprache in Osteuropa, mit einem bis zu 50 Prozent starken Anteil an slawischem Wortschatz.

Warum Rumänisch? Das wird man eigentlich immer gefragt, wenn man sagt, dass man Rumänisch lernt. Ich wundere mich immer über eine solche Frage. Ich frage mich ja auch nicht, warum ich sprechen gelernt habe, ich nehme an, es hat mir damals Spaß gemacht. Ich würde auch gerne lernen, einen Hundeschlitten zu steuern, oder wie die Namen aller US-Bundesstaaten lauten, oder wie man Schweinefleisch pökelt. Ist Rumänisch wichtiger? Ich könnte jetzt sagen, dass es ein lateinisches Wort gibt, das sich in allen romanischen Sprachen nur noch im Rumänischen erhalten hat: ligula, der Löffel, heißt dort lingură. Die Rumänen haben das Wort „Löffel“ gerettet! Und nur auf Rumänisch ist der Tag weiblich: o zi, wie im Latein. Aber das macht Rumänischsprechen noch nicht nützlicher als Hundeschlittensteuern. Ich lerne Rumänisch auch nicht, weil ich es brauche. Dann hätte ich gar keine Lust dazu. Dinge, die ich machen muss, treffen bei mir auf unüberwindliche innere Widerstände. Mein Geist muss sich frei bewegen können, wie ein Kind, das über eine Straße schlendert und die Schultasche auf dem Boden hinter sich herzieht. So lerne ich jeden Morgen den täglichen Wikipedia-Artikel, weil ich ihn nicht brauche. Mal was über Genetik, mal was über malayische Geschichte, aber möglichst nutzlos. Wobei man ja nie weiß! Man muss nur an den Ukrainer denken, der von sowjetischen Partisanen angeklagt wurde, ein faschistischer Spion zu sein. Er behauptete, sich als Mathematiker nicht für Politik zu interessieren. Zum Test ließen sie ihn die Euler-Form des Rests der Taylor-Reihe bilden. Weil ihm das gelang, blieb er am Leben, später wurde er Nobelpreisträger für Physik. Dass man ausgerechnet Taylor-Reihen studiert haben muss, um später nicht erschossen zu werden, würde keiner ahnen, und es funktioniert auch sicher nicht immer. Wobei auch hier die Frage ist, ob sich der Aufwand lohnt. Ich denke, ich würde lieber sterben, als Taylor-Reihen zu lernen, das weiß ich, weil ich es fürs Grundstudium Informatik hatte tun müssen. Ich kann also guten Gewissens sagen: Das Leben ist es nicht wert, dafür seine Zeit mit Taylor-Reihen zu verschwenden.

Abb 6: Auf Wanderschaft

Auf Wanderschaft

Es gibt ja überhaupt nur drei Gründe, warum man sich als Mann im Leben anstrengen muss: Ruhm, Geld und Frauen. Lerne ich deshalb Rumänisch? Es gibt sehr reiche Rumänen, die mit Models verheiratet sind, jeder Rumäne kennt sie, jeden Tag schreibt die Zeitung über sie, denn die Zeitung gehört ihnen ja. Aber sie können zum Teil schlechter Rumänisch als ich, jedenfalls Grammatik und Orthographie. Es sind ja meistens Kriminelle ohne Schulabschluss, aus dem Bodybuilder-Milieu, die irgendwann für einen Dollar einen ehemaligen Staatsbetrieb gekauft haben und jetzt als Chef einer selbstgegründeten Partei in die Politik streben. Man braucht also nicht sehr gut Rumänisch sprechen zu können, um an Geld und Frauen zu kommen. Bei Russisch kann man sich immerhin noch ausmalen, doch noch einmal in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten und sich nur durch seine Sprachkenntnisse beim Lagerkommandanten zu empfehlen. Aber Rumänisch?

Eigentlich lerne ich es ja nicht, ich kann es schon, ich muss nur den Trick herausbekommen. Wie Französisch hat sich Rumänisch aus dem Latein entwickelt. Man muss also nur Latein sprechen und sich dabei vorstellen, man sei mehrere Generationen rumänischer Schafhirten. Rumänisch zu lernen hilft mir, mein Französisch besser zu verstehen. Es ist wie ein benachbarter Berg, von dem aus ich es betrachten kann. Sprache ist ja ein politischer Begriff, eigentlich gibt es nur Dialekte. Man kann von Portugal über Spanien, Frankreich, die Schweiz, Italien bis nach Rumänien wandern und sich überall in derselben Sprache unterhalten, wenn man sie immer etwas anders ausspricht. Aber ich lerne nicht Rumänisch, um nach Rumänien zu reisen. Ich will es auch nicht sprechen können, das wäre sinnlos wie Zirkusakrobatik. Ich will es lernen, nicht sprechen. Das ist ein grundlegender Mangel aller Sprachkurse, sie zwingen mich, 20 anderen Ausländern in einer Sprache, die wir alle nicht beherrschen, zu erklären, wie man zum Bahnhof kommt, oder was man für typisch an seinem Heimatland hält. Das könnte ich auch auf Deutsch nicht. Das Schönste am Altgriechisch-Kurs war, dass man nicht sprechen musste.

Ich muss immer wieder nach Rumänien reisen, um die Sprache zu lernen, zuhause erlahmt mein Interesse an Sprachen sofort. Während ich dort so sammelwütig werde, dass ich mich über jeden rumänischen Satz freue und sie alle abschreiben möchte. Ich möchte dann, dass man von morgens bis abends auf mich einredet, deshalb habe ich die ganze Zeit meine Kopfhörer auf und höre Nachrichten. Ich glaube, Schliemann hat auch auf diese Weise Sprachen gelernt, allerdings hatte er kein Radio, sondern hat einen Diener angestellt, der ihm wochenlang hinterherlief und vorlas. Neulich habe ich in einem Münchner Hotel eine Stunde lang Al Arabiya geguckt, obwohl ich nur manchmal „sifr“ und „hamsa“ verstanden habe, „null“ und „fünf“. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nur noch ein paar Tage weitergucken zu müssen, bis der Knoten platzt, und ich Arabisch kann. Wenn man die Sprache dann tatsächlich lernt, stellt sich das als Illusion heraus, aber man hat weiterhin das Gefühl, dass nur noch diese drei unbekannten Wörter aus dem einen Zeitungsartikel fehlen, dann müsste man so weit sein. Aber schon kommen drei andere. Die Sprache spielt mit einem Katz und Maus. Aber nie so, dass man die Lust verliert. Man wird ja auch weiterhin Kreuzworträtsel lösen, obwohl man genau weiß, dass man nie alle lösen können wird, die es gibt, auch nicht, wenn die Gattin hilft. Genauso wenig angelt man, um alle Fische zu fangen.

Es gibt eigentlich gar keine Rumänen, sondern Moldauer, Walachen und Siebenbürgen, die in einer historisch glücklichen Stunde zu einem Staat vereint wurden. Für andere war die Stunde weniger glücklich, sonst wären die Siebenbürgen eine ungarische, die Moldauer eine ukrainische und die Walachen eine bulgarische Minderheit. Irgendwann haben die rumänischen Intellektuellen beschlossen, dass Rumänien der legitime Erbe des alten Rom ist. Die Daker hätten die Bedeutung Roms damals erkannt und sich den Römern freiwillig unterworfen, weil sie vom selben Holz waren. Deshalb gibt es Rumänen, die Decebal heißen, nach dem damaligen Dakerkönig, und andere, die Trajan heißen, nach dem römischen Kaiser. Noch andere heißen mit Vornamen Ovidiu, Remus, Vergil oder Vespasian. Ein Historiker aus dem 19. Jahrhundert hat in seiner Geschichte Rumäniens die Jahre ab der Gründung Roms gezählt und nicht ab der Geburt Christi.

Das ist alles hochinteressant, aber nicht der Grund, warum ich Rumänisch lerne. Hochinteressante Dinge stehen auch im täglichen Wikipedia-Artikel. Alles Wissen ist ja gleich wissenswert. Rumänisch bestand einmal zur Hälfte aus slawischem Wortschatz. Vrajitor ist der Zauberer, während врач auf Russisch der Arzt ist. Das zu wissen, verschafft mir eine sinnlose Befriedigung. Es gibt auch Wendungen, wie habar n-am, „Ich habe keine Ahnung“. haber ist bekanntlich türkisch für „Information“, kommt aber vom arabischen اخبار und heißt dort ebenfalls „Information“ oder „Nachricht“. Auch deshalb habe ich mit Arabisch angefangen, um die arabischen Wörter im Rumänischen wirklich zu verstehen.

Natürlich möchte ich auch noch Türkisch, Neugriechisch und mindestens eine skandinavische Sprache lernen. Ich kann schon einen schwedischen Satz: „Ettusen Skåningar behöver opereras mot fetma varje år“. Das war die Schlagzeile der ersten schwedischen Zeitung, die ich mir in Malmö gekauft habe: „Eintausend Schonen müssen jedes Jahr gegen Fettsucht operiert werden.“ Während mich fast alle Formulierungen, die ich in deutschen Zeitungen lese, abstoßen, fasziniert mich im Ausland solch eine Mitteilung.

Wegen meiner Unfähigkeit, mich mit nützlichen Themen zu identifizieren, würde ich Professor Kattenbusch gerne für ein ganz und gar überflüssiges Projekt begeistern. Ich würde gerne eine Kunstsprache entwickeln, die das Gegenteil von Esperanto ist, also so kompliziert wie möglich. In der es keine regelmäßigen Verben gibt. In der man nicht nur wie auf Arabisch bei Zahlen von eins bis zehn weibliche Adjektive mit männlichen Substantiven verbindet, sondern in der für jede Zahl eine andere Regel gilt. In der man, je nach Gesprächssituation, „30“ sagen muss, weil es als unhöflich gilt, die Zahl 20 zu benutzen. Es gibt in dieser Sprache Knack-, Schnalz-, Zisch-, Würgelaute und nasale Plosive. Es gibt jeden Laut grundsätzlich stimmhaft, stimmlos, hart, weich, betont und unbetont, und jeder wird anders ausgesprochen, je nachdem, welcher Laut ihm vorangeht oder folgt. So eine Sprache würde ich mir gerne ausdenken und sie anschließend lernen, weil es überhaupt keinen Sinn hat. Aber es wäre ein Beweis für die Schönheit unserer Wissenschaft.