Das, was die romanistische Literaturwissenschaft mit der Linguistik verbindet, dürfte heute vor allem die Sprachreflexion sein, zumal, wenn es sich um eine gemeinsame Sprache wie das Italienische handelt. So muss der Gratulationsgruß einer Literaturwissenschaftlerin für einen Linguisten dann auch mit dem Wort beginnen. Denn das Wort stand bekanntlich am Anfang. Eben diese Beziehung zum Wort aber ist es auch, die die Literaturwissenschaft von der modernen Sprachwissenschaft unterscheidet. Deutlich wird dies vor allem am Zugriff auf historische Texte, die man als Abhandlungen über die Sprache lesen kann. Solche älteren Werke zur Sprach- und Konversationskultur – man denke etwa an Castigliones Il libro del Cortegiano (1528) oder Pietro Bembos Prose della volgar lingua (1525) – beziehen ihre Sprech- und Sprachnormen aus einer rhetorisch modellierten Verhaltenskultur. Während die Linguistik in ihnen der Frage nach der Sprachnormierung nachgeht, stellen sie für die Literaturwissenschaft Zeugen eines menschlichen Perfektibilitätsbemühens dar, das sich in Sprachnormen niederschlägt, deren Grundlage eine ästhetische Ethik bildet.

Portrait - Michèle Mattusch


Michèle Mattusch, Prof. Dr., geb. 1958, o. Prof. für rumänische, italienische und französische Literatur am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Lehr- und Forschungsgebiete sind die Literatur der Frühen Neuzeit, Moderne und Postmoderne, Medialität und Intermedialität, Fiktions- und Metapherntheorie. Zahlreiche Aufsätze und Syntheseartikel zur italienischen und zur rumänischen Literatur.

Dante Alighieris De vulgari eloquentia1 bildet hier keine Ausnahme. Im Gegenteil: Dantes Traktat steht geradezu am Anfang dieser Tradition. Zwischen 1303 und 1305 auf Lateinisch abgefasst, um den Gelehrten der Zeit zu dienen, gilt das Werk noch heute als Begründungsgeste der italienischen Volkssprache. Dabei blieb es mehr als einhundert Jahre unbeachtet; es wurde erst 1529 von Gian Giorgio Trissino ins Italienische übersetzt und somit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Das in vier Büchern geplante Traktat bricht zudem im zweiten Buch ab, sodass es Fragment geblieben ist. Die sogenannte ‚erste gelehrte Abhandlung über die Volkssprache‘ erweist sich bei einer literaturwissenschaftlichen Lektüre als eine an Cicero und Horaz geschulte Dichtungslehre mit rhetorisch-poetologischer Zielsetzung. Mit der Sprache selbst beschäftigen sich vor allem das Proömium und die historischen und sprachgeographischen Teile des ersten Buches.

Diese Teile sind es dann auch, die von der modernen Linguistik immer wieder untersucht wurden, um sie mit gegenwärtigen Ergebnissen und Methoden der Sprachwissenschaft zu vergleichen. Eine gelungene und subtile Synthese hat Peter Wunderli mit seiner Frage Dante – ein Linguist?2 im Jahr 1993 geliefert. Obwohl Wunderli deutlich auf die Gefahren von Forschungen verweist, die Dante mit der modernen Linguistik verrechnen wollen, und ihn mit Pier Vincenzo Mengaldo (1979: 13) als einen genialen Dilettanten3 bezeichnet, findet er doch eine bemerkenswerte Fülle von Aspekten, die Parallelen und Anschlussstellen zur modernen Linguistik bieten. Dante, so vermerkt Wunderli, habe in seinem Traktat den funktionellen und instrumentellen Charakter der Sprache über die Expressivität gestellt. Er könne deshalb kommunikationsorientiert gelesen werden.4 Sprache sei für ihn – ähnlich wie bei Ferdinand de Saussure – keine Substanz, sondern eine Form. Historisch in der aristotelischen Tradition verankert, vertrete er gegen die modistische Sicht ein zweiseitiges Zeichenmodell mit arbiträrem Charakter.5 Außerdem handele das Traktat vom Ursprung, der historischen Veränderlichkeit und sozialen Schichtenspezifik der Sprache. Wunderli meint damit die adamitische Sprachgabe und die confusio linguarum nach der babylonischen Sprachverwirrung, die sprachliche Gemeinsamkeiten nur noch bei Berufsständen und in Fachsprachen zulasse. Selbst sprachgeographische Ansätze werden von ihm ausgewiesen, zerfallen die Sprachen doch bei Dante nach dem Turmbau zu Babel im Dreischritt, sodass sich drei europäische Sprachen und drei romanische, die sogenannten oc-, oïl- und sì-Sprachen, herausbilden, die wiederum in mindestens 14 Dialekte mit den jeweiligen Subdialekten zersplittern. Insgesamt spricht Peter Wunderli dem Dilettanten Dante somit erstaunliche sprachwissenschaftliche Kenntnisse und methodische Ansätze zu. Schließlich glaubt er, sogar bei Dante einen Normbegriff auf der Basis des usus zu finden. Dieser Normbegriff, so Wunderli, sei der dichterischen Sprache entgegengesetzt, die Dante lediglich als eine zulässige Abweichung begreife.6 Das von ihm propagierte ‚volgare illustre‘ sei als tertium comparationis eines nicht zu findenden Idealtypus aller Varietäten konstruiert.

Peter Wunderli würdigt Dante Alighieri als einen Gelehrten, der in der Retrospektion sichtbare Anschlüsse für die moderne Linguistik bietet. Sein Katalog an Kriterien reflektiert eine Linguistik, die die Poesie in die Alterität zwingt und sich von der Einheit verabschiedet hat, die Poetik, Rhetorik und Sprache für Dante bilden. So umgeht der Linguist den rhetorisch-ethischen Normbildungsprozess, der das Modell der italienischen Dichtungssprache konstituiert. Kurzum, die moderne Linguistik hat sich – zweifellos nicht unberechtigt – von dem verabschiedet, was für Dante Alighieri eine Selbstverständlichkeit war: das Prinzip der Einheit von Sprach-, Dichtungs- und Verhaltenslehre. Dantes Traktat, zuweilen von willkürlichen, persönlichen, politischen und ästhetischen Werturteilen durchwirkt – man denke an die Invektiven gegen das Toskanische und an das Lob, das er den Sizilianern und den Staufern zollt –, ist der modernen Linguistik nicht ‚objektiv‘ genug. Und die Jagd nach einem parfümierten Panther – Dante nutzt wiederholt die Jagdmetapher (I, 16, 1) – , die Suche nach einer perfekten Sprache, die sich im Begriff des ‚volgare illustre‘ veranschaulicht, kann nur ein Idealtypus aller Varietäten sein. Wenig beachtet wird dabei die Tatsache, dass das ‚volgare illustre‘ eine ‚edle‘, ‚anschlussfähige‘, ‚hoffähige‘ und ‚höfische‘ Sprache zu sein hat (I, 16, 6), die wie die guten Sitten, Gebräuche und Handlungen der Menschen keiner Stadt allein gehört, sondern allen gemeinsam ist (I, 16, 4).

Schon bei Dante, nicht erst bei Castiglione oder Bembo, ist die Sprache über Vergleiche an moralische und ästhetische Werte zurückgebunden. Das ‚volgare illustre‘ wird zum Entwurf einer zu bildenden Vollkommenheit der Sprache,7 die die existierende Alltagssprache aushebelt, indem sie von ihr nur das Beste nutzt. Pietro Bembo, der Dantes Traktat mit Sicherheit kannte, hat den Zusammenhang von rhetorischer Verhaltensmodellierung und Sprachnormierung dann in seinen Prose della volgar lingua (1525) festgeschrieben. Als Dichter, der im Kontext einer Nachahmungspoetik schrieb, hebt er auf die Perfektionierung des decorum ab, die Schnittstelle zwischen Rede und ethisch rückgebundenem Verhalten. So wird es im Italienischen rhetorisch-ästhetische Modelle der Sprache geben – ganz im Gegensatz zur deutschen Sprache, in der Luther bekanntlich ‚dem Volk aufs Maul schauen wollte‘. Schönheit, Magnifizenz und Wohlklang gehören zum Entwurf dieser Vollkommenheit, denn Sprache kann eben ‚schön‘ sein. Es ist nicht zuletzt wiederum ein Linguist, Jürgen Trabant, der diesen Aspekt der Sprache stets besonders betont. Die Poesie, so Trabant, sei „ein Schaffen um des Schaffens willen, eine zweckfreie Produktivität, etwas Überschüssiges, vielleicht eine Feier des Lebens selbst“.8 So viel Lob ist der poetischen Sprache seit langem nicht mehr gezollt worden. Zumal Trabant sich ausgerechnet Chomsky zum Gewährsmann nimmt: „Sprache ist als ein System angelegt, das ‚schön‘, aber im Allgemeinen unbrauchbar ist. Es ist für Eleganz geschaffen, nicht für den Gebrauch“.9

Fahnden wir weiter nach den Ansätzen für das ‚volgare illustre‘ bei Dante Alighieri. Dantes De vulgari eloquentia beginnt bekanntlich nicht mit der Zielvorstellung, sondern mit einer untergliedernden Hierarchisierung der Sprachen, wobei er eine primäre und eine sekundäre Sprache unterscheidet. Er trennt die sogenannte ‚natürliche‘ Sprache, die allen gemeinsam ist, vom Latein, das er als eine universelle, künstliche Sprache auffasst. Die Sprachen der Römer und der Griechen hält er also für künstlich konstruiert und geregelt. In seinem Traktat räumt er zunächst den ‚natürlichen‘ Sprachen den Vorzug ein. Sie sind die über Tradierung entstandenen ‚edleren‘ und ursprünglicheren Sprachen. Was aber macht die Sprache schließlich zu einer edlen (illustre) Sprache, wenn man die Gegenwart betrachtet? Muss man den Begriff des ‚volgare illustre‘ nicht neu setzen? Dies tut Dante in den Abschnitten über die Sprache der Dichter. Anhand der Sprache von Cino da Pistoia klärt er über seinen Begriff auf. ‚Edel‘ ist eine Sprache, wenn sie „erleuchtend und erleuchtet strahlt“ (I, 27, 1). Macht (das Setzen eines Maßstabs), Gebildetheit und Gerechtigkeit (curialis) machen gemeinsam mit der guten Struktur das perfekte, urbane Sprachresultat aus, das er zuweilen in den eigenen Kanzonen und in denen von Cino findet. Nur bei bestimmten Dichtern also entsteht das ‚volgare illustre‘. Denn das ‚volgare illustre‘ ist eine zu schaffende Sprache.

Mit dem Perfektionsmodell reagiert Dante im Wesentlichen auf seine anthropologische und seine historische Sicht auf die Sprache. Zentraler Teil des Proömiums des ersten Buches von De vulgari eloquentia ist nämlich die anthropologische Begründung der Sprache in den Kapiteln I–III. Ihnen folgt die Reflexion zum Ursprung der Sprache bis zur babylonischen Sprachverwirrung (IV–VII). Diese wird dann Anlass zur Sichtung des gegenwärtigen Zustands und des Vorhabens, ein ‚volgare illustre‘ zu re-konstruieren oder eben zu erfinden.10

Damit werden die Prämissen der Sprache von entscheidender Bedeutung. In der Tradition von Aristoteles deklariert Dante die Sprache als den Menschen zugehörig (I, 2). Weder die Engel noch die Tiere oder Dämonen benötigen die Sprechfähigkeit (I, 2, 2). Die vom Naturinstinkt geleiteten niederen Lebewesen können die ihnen gemeinsamen Leidenschaften und Verhaltensweisen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur gleichen Art erkennen. Auch bedürfen sie der Sprache nicht, weil sie keinen freundlichen Kontakt untereinander haben (I, 2, 5). Die Dämonen dann kennen einander aus der Zeit vor dem Fall, zur Vermittlung ihrer gemeinsamen Bosheit bedarf es der Sprache ebenfalls nicht (I, 2, 4). Sprache, so muss man also schlussfolgern, beruht auf den Unterschieden innerhalb der Spezies Mensch. Und diese Unterschiede betreffen die unterschiedlichen Grade ihrer Vernunft. Der Mensch, so heißt es, wird von der Vernunft bewegt, und diese ist eben bei einzelnen Individuen unterschiedlich ausgeprägt (I, 3, 1). Sprache dient dem Menschen zum einen zur Pflege sozialer Kontakte, zum anderen aber zum Austausch von Wissen. Denn höchstes Bedürfnis des Menschen liegt, wie es im Convivium heißt, im Begehren nach Wissen und Selbstperfektionierung: „Sì come dice lo Filosofo nel principio de la Prima Filosofia, tutti li uomini naturalmente desiderano di sapere.“11

Komplexer ist zweifellos die letzte Frage, die Frage nämlich, warum die Engel nicht der Sprache bedürfen. Die Engel, bekanntlich Mediatoren und Boten der anderen Welt, verfügen zur Offenlegung ihrer großartigen Gedanken – die Rede ist von einer beneidenswert „schnellen und nicht in Worte zu fassenden Fähigkeit ihres Intellekts“ (I, 2, 3) – über die Fähigkeit, sich einander vollkommen zu offenbaren. Sie verfügen über ein sprachloses Verständigungsvermögen. Zumindest „in dem glänzenden Spiegel, in dem alle reflektiert werden“, können ihre Gedanken „in ihrer ganzen Schönheit und ihrem Streben sichtbar werden“ (I, 2, 3). Engel benötigen keine sprachlichen Zeichen. Der Spiegel – Gott – ermöglicht ihnen blitzschnelle und völlige Offenbarungen ihres Intellekts. Dieser große Vorteil sagt natürlich etwas über die Sprache der Menschen aus. Sprache ist also das Medium des Nicht-völlig-Offenbaren. Sie steht für eine Abwesenheit, die sie anzeigt und verhüllt. Sprache ist für Dante ein Medium der Verlangsamung und der Verzögerung. Im Prinzip ist sie dem Menschen nur deshalb gegeben, weil die Menschen keine Engel sind. Menschen sind gewissermaßen behinderte Lebewesen, „denn der menschliche Geist ist durch Materialität und Schwerfälligkeit des sterblichen Körpers behindert“ (I, 3, 1). Der menschliche Geist, langsam und behäbig, kann die Unmittelbarkeit, Umfassendheit, Schnelligkeit und Großartigkeit der angelischen Ideen nie erreichen. Der menschliche Körper macht es schier unmöglich, einander durch ‚geistige Spiegelungen‘ zu verstehen.

Sprache ist bei Dante somit als ein Hilfsmittel fehlender Unmittelbarkeit beim intellektuellen Austausch der Menschen untereinander gedacht: „Wenn wir nämlich sorgfältig überlegen, was wir mit dem Sprechen beabsichtigen, dann ist deutlich, dass es nichts anderes ist, als anderen unsere Gedanken mitzuteilen“ (I, 2, 3). Natürlich geht es hier um Kommunikation12, nur wird sehr deutlich ein ganz bestimmter Aspekt betont. Sprache dient dem Gedankenaustausch eines im Körper verhafteten Menschen. Zentral ist nicht die Mitteilungsfunktion der Sprache auf der Grundlage von Normen, sondern das Medium. Dante reflektiert im Grunde genommen über den medialen Aspekt der Sprache. Beim Übermitteln der Gedanken muss Sprache sich auf die Körperlichkeit der Menschen einstellen. Hier finden wir das, was die Linguistik die „danteske Doppelstruktur“ der Sprache nennt. Um an den Verstand des Menschen zu gelangen, bedarf die Sprache eines sinnlichen Mediums, denn der Mensch kann Gedanken nur über die Sinne aufnehmen:

Das Menschengeschlecht brauchte also ein rational und sinnlich wahrnehmbares Zeichen zur gegenseitigen Übermittlung von Gedanken. Es musste nämlich rational sein, weil es etwas aus dem Verstand zu empfangen und an den Verstand zu senden hatte, und es musste sinnlich wahrnehmbar sein, weil nichts von einem Verstand an andere ohne ein sinnlich wahrnehmbares Medium gesendet werden kann (I, 3, 2).

Die Doppelstruktur der menschlichen Sprache beruht bei Dante auf der menschlichen Doppelnatur von Körper und Geist. Sie bildet die Grundlage für den zweiwertigen Zeichenbegriff: „Dieses edle Zeichen ist es also, von dem wir sprechen. Es ist sinnlich wahrnehmbar, insofern es ein Laut ist, rational, insofern es etwas, das wir festlegen, bedeutet“ (I, 3, 3).

Ohne die Sinnlichkeit, so übrigens ganz nebenbei auch Wunderli, gäbe es gar keine menschliche Kommunikation. Konventionell festgelegt aber sind nur die Verbindungen des sinnlichen Sprachkörpers mit den Bedeutungen. In Dantes Sprachkonzept spielt diese notwendige Sinnlichkeit bis in die Commedia hinein eine entscheidende Rolle. Im Paradies, wo der reine Intellekt herrscht, muss der Künstler-Gott den Menschen zumindest Lichterscheinungen und Formspiele geben, damit der Pilger Dante, der die drei Reiche bekanntlich als lebender Mensch mit seinem Körper und seinen Sinnen erwandert, eine anschauliche Gestalt von den Ideen bekommt. Das, was dem menschlichen Zugang verschlossen ist, weil es als rein Geistiges nicht über die Sinne zu erlangen ist, muss wahrnehmbare Erscheinung werden.13 Es wird deshalb, so Beatrice, in einer Sprache geformt, die der Mensch erfassen kann:

Così parlar conviensi al vostro ingegno,
però che solo da sensato apprende
ciò che fa poscia d’intelletto degno.

(Par. IV, 40–43)

Dantes Formbegriff kennt damit das Prinzip von Figuration und Defiguration eines gegebenen Materials. Er ist mit Saussure nicht vereinbar.14 Denn bei Dante geht es um die intellektuelle Form- und Umformbarkeit von Buchstaben in Töne oder Bilder, den medialen Sprachcharakter, der der menschlichen Aufnahmefähigkeit und Perfektibilität entspricht. Form bedeutet deshalb, den Dingen, den Ideen, zuletzt sogar dem Unvorstellbaren, eine anschauliche Gestalt zu geben, sei es durch wohl gesetzte Worte, sei es durch Transformation in Visualität oder Wohllaut mit Hilfe der Rhetorik.

Auch der sprachgeschichtliche Teil des Traktats führt letztlich zu dieser sinnlichen Sprachauffassung. Lassen wir die endlosen Debatten beiseite, die darüber spekulieren, ob Adam von Gott nur die Sprachfähigkeit oder eine ausgebaute Sprache bekommen hat. Fakt ist, dass die Sprache (oder die Sprechfähigkeit) eine göttliche Gabe ist. Nach Genesis 3,2–3 hat wohl Eva den ersten Satz gesprochen, doch dafür bringt Dante kein Verständnis auf. Für ihn ist es „vernünftiger anzunehmen, dass der Mann eine so wichtige Tat des Menschengeschlechts vollbracht hat“ (I, 4, 3). Adam erhält demzufolge die Sprache von Gott, denn für ihn gibt es noch keine menschliche Überlieferung. Diese Sprache müsste dann die eigentliche ‚natürliche Sprache‘ gewesen sein, dauerhaft und unveränderlich, wie es andererseits der ‚gramatica‘ der künstlichen Sprachen eigen ist. Es ist schwer zu sagen, ob Adam seine Sprache schon selbst formte. Deutlich jedoch ist der Zustand der Sprache nach dem Turmbau zu Babel. Die bestrafte Hybris hat den Verlust der allen gemeinsamen Ursprache zur Folge, sodass von nun an die Vielsprachigkeit herrscht und der Mensch auf die Suche nach einer perfekten Sprache geht.

Diese Vielsprachigkeit ist nun keineswegs nur als soziale und geographische Ausdifferenzierung zu erfassen. Bedenkt man die Zweigliedrigkeit des sprachlichen Zeichens, führt sie nämlich dazu, dass Sinne und Sinn nun nicht mehr übereinstimmen. Nun gibt es einen Überschuss an Klängen, die mit einer Bedeutung verbunden werden können. Hans-Jost Frey hat sogar ein Schema entworfen, das für den Zusammenhang von Klang (Sinnlichkeit) und Bedeutung bei Dante möglich wäre. Nach Frey müsste es folgende Varianten geben: die Bedeutung ohne Klang, also die Sprache der Engel. Dann kann ein Klang mehrere Bedeutungen haben, was Mehrdeutigkeit entstehen lässt. Außerdem können mehrere Klänge eine gleiche Bedeutung aufweisen, so entsteht die Vielsprachigkeit. Die deutliche Zuordnung einer Bedeutung zu einem Klang wäre freilich die perfekte Ursprache. Schließlich gibt es natürlich Laute ohne Bedeutung. In der Commedia sind es zuweilen Teufel, die in dieser Sprache sprechen, man erinnere sich an: „Pape satan, pape satan aleppe“ (Inf. VII, I). Oder man denke an Nimrod, den Erbauer des Turms zu Babel: „Raphel maì amecche zabì almi“ (Inf. XXXI, 67). Mehrdeutigkeit und Vielsprachigkeit sind in ihrer Zuordnung spiegelverkehrte Störungen des ursprachlichen Gleichgewichts. Die Störung, so Frey, „besteht in der Auffächerung der Klänge und Bedeutungen und bewirkt eine Streuung, die Vagheit und Unsicherheit schafft“.15

Davon abgesehen, dass Dante in der Commedia augenscheinlich die Varianten durchspielt, wobei in der Hölle die Unverständlichkeit der Laute, im Purgatorium das synästhetische ‚visibile parlare‘ und im Paradies die Schau des Unvorstellbaren dominiert, muss es dem Dichter wohl darum gehen, den Verlust der Ursprache in einen Gewinn umzuschlagen. Er ist es, der das ‚volgare illustre‘ immer neu zu schaffen hat. Er tut das freilich auf der Grundlage einer nachbabylonischen Sprachverwirrung. Primäres Fundament der Sprache aber ist ihre Sinnlichkeit, d.h. ihre dem menschlichen Körper angemessene Sensualität. Dantes Sprache kommt durchaus ohne Bedeutung aus, aber niemals ohne ein Ansprechen der Sinne. Menschliche Einsichten sind nach Dante nicht primär gedanklich, sondern sinnlich-bildlicher Natur. Selbst Gott ist für den Menschen nur in farbigen Kreisen fassbar.

Es würde zu weit führen, die vielen Situationen zu schildern, in denen das Sehen oder das Lauschen in der Commedia dargestellt oder vom Leser eingefordert werden. Verwiesen sei nur auf die berühmteste Episode. Es handelt sich um die sogenannte Casella-Episode im zweiten Gesang des Purgatoriums. An der Küste des Läuterungsbergs treffen Dante und Vergil auf eine neu angekommene Schar von Seelen. Unter ihnen befindet sich der Sänger Casella, den Dante an seiner Stimme wiedererkennt. Dante bittet Casella um ein Lied, und dieser wählt für seinen Vortrag eine der Kanzonen des Convivium aus. Und so kommt es zu der Situation, dass die Seelen, Dante und Vergil, dem Gesang lauschen. Niemand denkt mehr daran, den Aufstieg auf den Läuterungsberg fortzusetzen. Entrückung und Selbstvergessenheit herrschen. Alles, was vor oder hinter den Hörenden liegt, scheint aufgehoben. Hier zeigt sich, was der Ton eines Liedes vermag. Gesang und Poesie sind für Dante somit keineswegs das Andere der Sprache, sondern die sinnliche Kraft, die der Sprache selbst eigen ist.

Freilich geht es Dante nicht nur um Klang und Bild, sondern um das Schaffen eines sinnlichen Eindrucks, der sich in der menschlichen Seele vertieft. Das Haften an der sinnlichen Seite der Sprache ist eben auch gefährlich. Ausdrücklich thematisiert Dante diese Gefahr, wenn schließlich Cato, der Wächter des Purgatoriums, die selbstvergessenen, lauschenden Seelen aufscheucht, um sie an ihr Ziel, an ihr Seelenheil zu erinnern. Vor allem dort, wo vom Höchsten und Unvorstellbaren die Rede ist, genügt der bewegende Eindruck nicht. Denn hier verweist er auf die höhere, verborgene Wahrheit, die der Dichter zu vermitteln hat. Der ästhetische Zeichengebrauch soll seinen kreatürlichen Reiz der geistigen Überzeugung zugute kommen lassen und Zeuge dessen werden, worauf man nur verweisen kann.16 Die Sinne, das Bild, der Ton und der Duft sind unter diesem Gesichtspunkt lediglich sinnenfällige Anhaltspunkte für übersinnliche Wesenheiten. Was die Sinne sagen, wird Anstoß und Impuls, nicht Erfüllung des Denkens. Der Impuls aber, der zur Überschreitung des Sinnlichen führt, wie das gesamte danteske Werk am Ende selbst überschritten werden will,17 liegt in der Ausdrucksfähigkeit der sinnlichen Sprache begründet.

Der sinnliche Impuls bildet damit die fundamentale Ebene der dantesken Sprache. Für ihn ist die Rhetorik verantwortlich, die den schriftlichen Text – Dantes Poem – in Bilder und Töne transformiert, um beim Leser eine imaginative Lektüre zu bewirken. Der Text soll Töne hörbar und Bilder sichtbar werden lassen. Bei aller Schriftlichkeit des dantesken Werkes bleibt die mittelalterliche Kultur in diesem Sinne an einer oralen und visuellen Kultur orientiert. Jacques Le Goff nennt die mittelalterliche Kultur eine Kultur der Sichtbarkeit.18 Man denke nur an die öffentlichen Bauten, die Prozessionen mit ihren choreographierten Körpern und Gesten. Schon aus diesem Grund müssen für Dante die sensitive Wahrnehmung und die sinnlichen Möglichkeiten der Sprache von enormer Bedeutung sein.

Auch die von Dante in der Commedia gewählte Form des Erzählens kann hierfür als Beweis dienen, versetzt der Autor seinen Protagonisten doch mit seinem Körper, seinem Hör- und Sehvermögen in die drei Jenseitsreiche. Sie werden durchschritten und durchlitten und vom Erzähler memorialistisch vor Augen geführt. So entsteht die der Commedia eigene Architektur und Landschaft und die Vor-Ort-Begegnung mit den Seelen. Der Text ist deshalb permanent darauf angelegt, sensitive Erlebensräume zu schaffen, die die Schrift ins Hörbare und ins Visuelle umschlagen lassen.

So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass die Commedia sehr bald mit Miniaturen versehen wurde, die die Vorstellungskraft des potenziellen Lesers wirksam stimulieren sollten. Der mittelalterliche Leser, der zweifellos mit dem Text anders umging als der moderne Leser, dürfte diese Kombination von Visualität und Schriftlichkeit genossen haben. An bestimmten Miniaturen zeigt sich sogar, wie sich die mittelalterliche Text-Bild-Kombination das Sinnliche der Sprache vorstellt. Sehen wir uns deshalb zuletzt an, was der Codex 1080 der Mailänder Biblioteca Trivulziana zum Problem der Sinnlichkeit von Schrift zu sagen hat (vgl. Abb. 1). Das Manuskript stammt von Francesco di ser Nardo da Barberino, der Dantes Commedia im Jahr 1337 in Florenz kopierte. Barbarinos Manuskript, das aus 107 Blättern Pergament besteht, illuminiert die drei Eingangsgesänge der Commedia. Nur die Titelblätter zu den Cantiche sind mit Miniaturen versehen, bei allen weiteren Gesängen werden lediglich die Initialen rot und blau geschmückt.

Abb. 1: Beginn der Commedia im Codex 1080, Biblioteca Trivulziana, Mailand

Beginn der Commedia im Codex
					 1080, Biblioteca Trivulziana,
					 Mailand

Der Text ist auf dem Blatt in zwei Spalten verteilt, wobei der linke Block dreigeteilt erscheint und sich unterschiedlicher Farben und Graphien bedient. Die einleitende Rubrik – Incomincia la comedia di Dante – ist in roter Farbe abgehoben. Die beiden Textblöcke werden umrahmt. Von oben ausgehend führt eine stilisierte Blütenborte auf dem rechten Rand nach links unten. Sie geht im unteren Teil in vegetabilisch-anthropomorph anmutende Figuren über. Geradezu gegenläufig hierzu quillt aus der gefüllten Initiale auf dem linken Rand ein dunkler Weg hervor, der sich von links nach rechts unten ausbreitet und mit der Blütenranke verbindet.

Illustriert wird die Initiale N von Nel mezzo del cammin di nostra vita (vgl. Abb. 2). Die gefüllte Initiale befindet sich auf dem oberen Drittel des Pergaments. Die Miniaturen der Umrandung können im Wesentlichen in einer gewissen Reihenfolge gelesen werden. Sie führen von den stilisierten Bäumen des Waldes am rechten unteren Blattrand über ein Ufer und einen Berg, auf dem eine Person erscheint, vorbei an einer zweiten Figur zurück in die Initiale. Die Randillumination vollzieht eine kreisförmige Bewegung von oben nach unten, von unten nach oben. Lesenderweise kann diese Bewegung einer Abfolge zugeordnet werden, handelt es sich doch bei der zweiten Figur, die ihren Blick aufwärts richtet, augenscheinlich um den Protagonisten des Poems. Ihm kommen dann von oben nach unten die drei allegorischen Tiere – der Panther, der Löwe und die Wölfin – entgegen. Der Blick des Lesers wird anhand der Aufwärtsbewegung Dantes entgegen der Abwärtsbewegung der Tiere schließlich immer wieder zur Initiale geführt. Sie ist es, in der sich alles versammelt und aus der alles hervorgeht.

Abb. 2: Beginn der Commedia im Codex 1080 (Detail)

Beginn der Commedia im Codex
					 1080 (Detail), Biblioteca
					 Trivulziana, Mailand

Der materiell hervorgehobene Buchstabe rahmt wie ein Fenster einen Durchblick, er soll transparent werden, indem er einen Schauraum eröffnet, der vom Blatt weg auf eine innere Bühne führt und den Leser einlädt, gemeinsam mit den nun versammelten Protagonisten die Welt des Poems zu betreten. Dargestellt wird in der Initiale augenscheinlich die letzte Sequenz des Gesangs. Gleichzeitig führt der Weg aus der Initiale zurück auf das Blatt, sodass man die Etappen zurückverfolgen kann, die der Protagonist zu bestreiten hatte. Der Weg des Waldes breitet sich mit seiner dunklen Farbe auf dem Blatt zum Leser hin aus. Das ist zweifellos kein Spiel, sondern es zeigt den Effekt, den hier die Sprache – die Schrift – ausüben soll. Gelenkt über die Bildfolge geht es zum Buchstaben. Der Buchstabe wird in seiner materiellen Sichtbarkeit aufgelöst, um Impuls eines Sich-Versetzens zu werden. Aus dem Buchstaben heraus entsteht eine Verbindung zum sehenden Leser.

Das Bild kann der Leser nur über den Text lesen. Gleichzeitig wird er angehalten, das Gelesene zu imaginieren und zu rekapitulieren. Dabei liest und ‚hört‘ er die ‚Stimme‘ des Erzählers: Nel mezzo del cammin di nostra vita. Und er ‚sieht‘ das vom Erzähler Erzählte. Der Erzähler verdoppelt sich. Er gibt seine Erinnerungsbilder an den Text, sie werden durch die Miniatur realisiert. Seine Stimme aber klingt im Lesen in einer Verlaufsform nach und eröffnet Vorstellungsbilder des Erinnerten, die ihrerseits von der Miniatur gestützt werden. Im Prinzip stellt die Miniatur äußerlich einen inneren Vorgang dar. Sie ist Stimulus und Metapher der Vorstellungsbildung. So illustriert diese Miniatur die Aktivität, die die Sprache einfordert, wenn sie eine sinnlich-imaginative Lektüre anstrebt.

Die Initiale selbst stellt die letzte Szene des ersten Canto dar. Hier sind Dante und Vergil vereint und beginnen ihren gemeinsamen Weg. Während die Figuren des Randes sich vom Leser abwenden, sind die Protagonisten in der Initiale auf dem dunklen Bühnenraum so arrangiert, dass sie ihren Körper dem Leser zuwenden, während ihre Blicke aufeinander gerichtet sind. Das ‚Schaubild‘ besteht aus stilisierten Bäumen vor und hinter den Figuren, der Weg öffnet sich nach oben. Vergil, in rot und blau gekleidet, ist der ältere. Größer als Dante blickt er von oben nach unten auf seinen Schützling. Dante dagegen erhebt den Blick vertrauensvoll zu seinem Meister und Führer. Wichtig ist natürlich das Motiv des Blicks, das die gesamte Commedia durchzieht. Vergils Zeigehand verweist auf den Weg, denn beide befinden sich schon im Aufbruch. Für den Leser aber sind die Gesten, vor allem die Hände und die Fußstellungen interessant, sie sind auffordernd, bewegungsanmutend und dynamisieren.

Die szenische Entfaltung des Poems wird auf diesem Titelblatt vorgeführt. Im Wechselspiel von Bild und Buchstaben zeigt sich aber auch die Lektüreerwartung. Die Initiale ist das Medium, das zum Bild führt. Der Buchstabe verweist so auf seine Kraft, er eröffnet eine sinnlich-anschauliche Welt, wird Impuls einer imaginativen Lektüre, die die Protagonisten bei ihrer Reise begleitet. Der Illuminator hat damit die Erwartung des sinnlichen Imaginierens ins Bild gesetzt, das Dantes Poem beherrscht. Nichts tritt in den Verstand, ohne ein sinnlich wahrnehmbares Medium. Es ist diese primäre Sinnlichkeit, die Dantes Sprachreflexion beherrscht. Für Dante, so will die Literaturwissenschaftlerin am Ende schlussfolgern, ist Sprache in erster Linie ein Medium, das der menschlichen Weltbegegnung zu entsprechen hat. Weil der Mensch aber die Welt mit den Sinnen wahrnimmt, bedarf es eines Mediums, das dieser Auffassungsform entspricht. Das aber kann für Dante nur die klingende und die anschauliche Sprache sein, eine Sprache, die ihr Fundament in einer Aisthesis hat.

Anmerkungen

1 Zitiert wird nach der Ausgabe Dante Alighieri (2007).

2 Vgl. Peter Wunderli (1993/94): 81–127.

3 Vgl. ebd.: 121.

4 Vgl. ebd.: 84ff.

5 Vgl. ebd.: 87.

6 Vgl. ebd.: 105.

7 Vgl. hierzu Eco (1994): 47–64.

8 Trabant (2009): 90.

9 Zitiert nach ebd.

10 Vgl. Eco (1994): 58.

11 Dante Alighieri (1996): 2.

12 Vgl. Wunderli (1993/94): 89.

13 Vgl. Frey (2008): 28.

14 Vgl. hierzu auch Eco (1994): 60f. Der Semiotiker meint in Dantes Formbegriff ein Sprachvermögen zu erkennen, das in der Art einer generativen Matrix allen Sprachen gemein ist. Auch Eco übergeht die Formung eines Materials zur besseren Entfaltung des Menschlichen.

15 Frey (2008): 76ff.

16 Vgl. Winfried Wehle (1992): 258.

17 Vgl. hierzu Stierle (2007).

18 Vgl. Le Goff (1970): 608.

Literatur

Alighieri, Dante (1996): Das Gastmahl. Erstes Buch. Italienisch-Deutsch, hg. unter der Leitung von Ruedi Imbach, Hamburg.

– (2006–2008): Commedia, con il commento di Anna Maria Chiavacci Leopardi, vol. I–III, Milano.

– (2007): De vulgari eloquentia mit der italienischen Übersetzung von Gian Giorgio Trissino (1529). Deutsche Übersetzung von Michael Frings und Johannes Kramer, Stuttgart.

Eco, Umberto (1994): Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München.

Frey, Hans-Jost (2008): Dante. Fünfundzwanzig Lesespäne, Basel.

Le Goff, Jacques (1970): Kultur des europäischen Mittelalters, München.

Mengaldo, Pier Vincenzo (Hg.) (1979): De Vulgari Eloquentia, in: Dante Alighieri, Opere minori, Bd. II, Milano, Napoli, 1-237.

Stierle, Karlheinz (2007): Das große Meer des Sinns, München.

Trabant, Jürgen (2009): Die Sprache, München.

Wehle, Winfried (1992): Concupiscentia signorum. Über ästhetische Erfahrung von Zeichen: Augustin, Dante, Petrarca in: Walter Haug/Dietmar Mieth (Hg.): Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, München, 247–273.

Wunderli, Peter (1993/94): Dante – ein Linguist?, in: DDJ 68/69, 81–127.