2 Einleitung
Karte 1: Ähnlichkeitskarte zum Standarditalienischen (ALD - Trentino)

Der trentinische Dialektraum wird in den romanistischen Handbüchern traditionellerweise im Rahmen der Beschreibung des Lombardischen und jener des Venedischen behandelt, wodurch indirekt seine Übergangsstellung zwischen den beiden oberitalienischen Geotypen zum Ausdruck kommt. Aus quantitativer Sicht konnte ich diese Brückenstellung mittels verschiedener Ähnlichkeitsprofile sowie synoptischer Karten aufzeigen,3 die im Zuge der Dialektometrisierung des ALD-I entstanden waren.4 Die in diesem Zusammenhang bislang präsentierten Kartierungen operierten immer mit dem Gesamtnetz des 217 Messpunkte (Ortsdialekte) umfassenden ladinischen Sprachatlasses. Dadurch konnten zwar die überregionalen Zusammenhänge gut herausgearbeitet werden, die innere Arealgliederung des Trentino blieb aber eher unscharf. Dieses Manko soll nun durch die Präsentation dialektometrischer Visualisierungen ausgeglichen werden, deren Grundnetz neben den 62 genuin trentinischen Messpunkten drei weitere im Bozner Unterland umfasst. Dazu kommen, wie in der Tradition der Salzburger Dialektometrie5 üblich, hochsprachliche Kunstpunkte, die einerseits das Standardfranzösische und andererseits das Standarditalienische repräsentieren.
Karte 2: Ähnlichkeitskarte zum Standarditalienischen (AIS)

Insgesamt stützt sich unsere dialektometrische Analyse zum Trentino auf eine aus 67 Ortsvektoren und 3.330 Merkmalsvektoren (= aus rund 850 Originalkarten des ALD-I gezogene Arbeitskarten) zusammengesetzte und somit aus über 220.000 einzelnen Datenzellen bestehende Matrix.6 Knapp 16 Prozent aller Merkmale betreffen dabei das Lexikon, 15 Prozent die Morphosyntax und der Rest (69 Prozent) die Phonetik.
3 Trentinische Ähnlichkeitsprofile
Dialektometrische Ähnlichkeitsprofile erlauben es, die Position aller im Untersuchungsraum vertretenen Ortsmundarten näher zu bestimmen. In diesem Zusammenhang wird der die Referenzdialekte umgebende Raum als dreidimensionales System aufgefasst, wobei zwei Dimensionen durch die geographischen Koordinaten des jeweiligen Ortes vorgegeben sind, während die dritte Dimension über die dialektometrische Messung interdialektaler Ähnlichkeiten bestimmt wird. Dabei wird jeder unserer (N = 67) Dialekte mit allen übrigen (N–1 = 66) Dialekten verglichen, wobei wir vom Prinzip ausgehen, dass zwei Mundarten einander umso ähnlicher sind, je mehr phonetische, lexikalische und/oder morpho-syntaktische Merkmale sie miteinander teilen. Hohe Ähnlichkeitswerte (die sich prinzipiell auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent bewegen können) werden dabei auf den Karten durch warme Farben (rot, orange bzw. lachsfarben, gelb) repräsentiert, während große innerlinguistische Distanzen auf den Ähnlichkeitskarten durch Signaturen in kalten Farben (dunkelblau, hellblau, grün) in Erscheinung treten. Der jeweils gewählte Vergleichspunkt/Prüfbezugspunkt selbst ist nicht eingefärbt und erscheint daher als weißes Polygon.7
Karte 3: Ähnlichkeitskarte zum Dolomitenladinischen (Oberfassanischen)

3.1 Zur italianità der Dialekte des Trentino
Das auf Karte 1 abgebildete Ähnlichkeitsprofil zeigt die mehr oder weniger große Nähe der im Trentino gesprochenen Dialekte zum Standarditalienischen, bezieht sich also auf ihre mehr oder weniger stark ausgeprägte Italianität bzw. Toskanität.8 Diese bewegt sich, wie man Legende und Histogramm von Karte 1 entnehmen kann, zwischen einem Minimum von 27 Prozent und einem Maximum von 72 Prozent.9 Der Minimalwert betrifft dabei das Französische10, das also nur gut ein Viertel aller hier berücksichtigten Merkmale mit dem Italienischen teilt, während bei knapp drei Vierteln Divergenzen auftreten. Davon abgesehen zeigt das Dolomitenladinische des oberen Fassatals (mit rund 44 Prozent) unter allen in Frage kommenden Dialekten die geringste Affinität zum Standarditalienischen.11 Die bisher gewonnenen Einsichten sind nicht weiter überraschend, handelt es sich doch bei den erwähnten Vergleichsobjekten um drei gänzlich unterschiedliche Entitäten der Romania, nämlich um Galloromanisch (repräsentiert durch P. 888, Französisch), Italoromanisch (repräsentiert durch P. 999, Italienisch) und Rätoromanisch (repräsentiert durch die PP. 97–98, Oberfassanisch/cazet).
Karte 4: Ähnlichkeitskarte zum Solandrischen (Sulzbergischen)

Wenn wir nun auf Karte 1 die Raumverteilung der „italophilen“ Dialekte (= warme Farbklassen) betrachten, so bemerken wir zweierlei: 1. die große (um 71 Prozent oszillierende) Affinität der in der Valsugana gesprochenen, venedisch-vicentinisch geprägten Mundarten zum Italienischen,12 und 2. die ebenfalls überdurchschnittlich starke Italianität des gesamten zentraltrentinischen Raums. Dieser tritt uns hier als überaus kompakte Klasse gegenüber, die neben den im Etschtal bzw. in der Val Lagarina (vom Bozner Unterland bis an die Südgrenze des Trentino) gesprochenen Varietäten auch einen Teil des cembrano (i.e. der Dialekte des Zimmertals/Val di Cembra) und des fiammazzo (unteres Fleimstal/Val di Fiemme), also der im Avisio-Tal östlich der Etsch bis auf die Höhe von Moena gesprochenen Dialekte mit einschließt.13 Mit leicht unterdurchschnittlicher Italianität erscheint hingegen (als räumlich ebenfalls geschlossene Gruppe) der gesamte Westen bzw. Nordwesten unseres Beobachtungsraums, d.h. einerseits die gemeinhin dem Ostlombardischen zugerechneten Dialekte Judikariens und der Val Rendena sowie andererseits die romanischen Mundarten des Noce-Tals (Solandrisch am Sulzberg, Anaunisch am Nonsberg).14 Zu dieser Klasse zählt ferner das in Unterfassa gesprochene brach, wobei innerhalb des Fassatals (bzw. in weiterer Folge auch in Moena und im Fleimstal) die von Nord nach Süd kontinuierlich zunehmende Italianität besonders deutlich ins Auge fällt.15
Karte 5: Ähnlichkeitskarte zum Anaunischen (Nonsbergischen)

3.2 Dolomitenladinisch vs. Noce-Romanisch16: Kurzkommentar zu den Ähnlichkeitskarten 3 bis 5
Der zuletzt angesprochene, aus der Perspektive des italienischen Prüfbezugspunkts erfolgte Zusammenfall von Ostlombardisch, Noce-Romanisch und Fassa-Ladinisch (brach) in ein Intervall17 könnte dazu verleiten, die genannten Idiome als zusammengehörig bzw. als einander besonders nahestehend zu sehen. Dies wäre jedoch insofern falsch, als die auf Karte 1 sichtbaren Gemeinsamkeiten einzig und allein darin bestehen, dass alle im Intervall [3] befindlichen Dialekte vom Italienischen ungefähr gleich weit entfernt sind. Um der immer wieder kontrovers diskutierten und politisch instrumentalisierten Frage einer allfälligen Ladinität der Dialekte von Sulzberg und Nonsberg18 auf den Grund zu gehen, empfiehlt es sich, Ähnlichkeitskarten zu generieren, die einerseits mit genuin ladinischen und andererseits mit solandrischen bzw. anaunischen Vergleichspunkten arbeiten. Auf Karte 3 ist ein Profil aus der Sicht des Dolomitenladinischen abgebildet, Karte 4 zeigt hingegen die Ähnlichkeitsrelationen von Sulzberg und Karte 5 jene von Nonsberg aus gesehen.
Karte 6: Ähnlichkeitskarte zum Zentraltrentinischen (Bozner Unterland)

Ad Karte 3 (P. 98, Ciampedel): Zu den dem Oberfassanischen besonders nahestehenden Dialekten gehören innerhalb des Trentino ausschließlich die übrigen Ortsmundarten des Fassatals (80–90 Prozent Ähnlichkeit mit Ciampedel) sowie, mit etwas Abstand, das Moenatische (73 Prozent).19 Nahezu alle übrigen Dialekte (also auch das Noce-Romanische!) fallen gemeinsam in die um den mittleren Ähnlichkeitswert gruppierten Intervalle und zeigen somit nur mehr durchschnittliche Affinität zum cazet von Ciampedel (53–65 Prozent).20 Als Antipoden treten wiederum das Französische (30 Prozent) und auch das Italienische (44 Prozent) auf.21
Ad Karte 4 (P. 54, Péio): Aus der Perspektive des Solandrischen zeigt sich dreierlei, nämlich 1. die relativ große Nähe nicht nur der umliegenden Dialekte (Sulz- und Nonsberg), sondern auch jener des Bozner Unterlands und des gesamten Etschtals,22 2. die relative Ferne des Ostlombardischen und des (dem Venedischen nahestehenden) Osttrentinischen23 und 3. die eindeutige Antipodenstellung von Französisch (30 Prozent) und Fassanisch (52–59 Prozent). Aus der Sicht eines Repräsentanten des Anaunischen (Karte 5: P. 50, Cloz) sieht die Lage sehr ähnlich aus (starke Affinitäten zu den Nachbarmundarten des Noce-Tals und des Etschtals, große Distanz zu Französisch und Ladinisch).
Karte 7: Ähnlichkeitskarte zum Zentraltrentinischen (Stadt Trient)

Das Noce-Romanische von Sulzberg und Nonsberg steht also nach Auskunft unserer Ähnlichkeitsprofile nicht nur dem Zentraltrentinischen von Trient (81 Prozent), sondern auch dem Ostlombardischen (ca. 67 Prozent) und sogar dem Standarditalienischen (61 Prozent) noch deutlich näher als dem Dolomitenladinischen (hier speziell dem cazet des oberen Fassatals mit rund 52 Prozent Ähnlichkeit).24
3.3 Zentraltrentinisch: Kurzkommentar zu den Karten 6 bis 10
Die auf Karte 6, Karte 7, Karte 8 und Karte 9 abgebildeten, allesamt zentraltrentinischen Ähnlichkeitsprofile operieren mit Prüfbezugspunkten aus dem Norden, aus dem Zentrum und aus dem Süden unseres Beobachtungsraums. Es handelt sich dabei in allen vier Fällen um Ortschaften, die die Dialekte des Etschtals bzw. der Val Lagarina repräsentieren. Diesbezüglich wird in der Fachliteratur u.a. darauf verwiesen, dass zwischen Trient und Rovereto eine Murazzo oder Murazzi genannte Sprachgrenze verlaufe, die das Zentraltrentinische in eine Nordhälfte und in eine (dem Venedischen Veroneser Zuschnitts nahestehende) Südhälfte teile.25
Karte 8: Ähnlichkeitskarte zum Zentraltrentinischen (Stadt Rovereto)

Nun kann man anhand dialektometrischer Kartierungen sehr gut nachmodellieren, inwiefern im Einzugsbereich bzw. in der näheren Umgebung der gewählten Prüfbezugspunkte sprachliche Brüche verlaufen. Auf den vier in diesem Kontext präsentierten Ähnlichkeitsprofilen ist bezüglich einer allfälligen Zweiteilung der Etschtaler Dialekte in der Tat nichts zu sehen. Im Gegenteil, sowohl aus der Sicht des jeweils nördlichsten und des südlichsten Vergleichspunktes, als auch von der Warte der beiden im Zusammenhang mit der Murazzi-Grenze konkret apostrophierten Dialekte (Trient resp. Rovereto) aus gesehen zeigt sich das Etschtal als zusammenhängender Block, der unabhängig vom gewählten Prüfbezugspunkt immer das gesamte zentrale Trentino abdeckt.26 Eine weitere (durchaus erwartbare) Gemeinsamkeit der vier zentraltrentinischen Profile besteht darin, dass sich – abgesehen von der deutlichen Distanzierung vom Fassa-Ladinischen und vom Französischen27 – auch das Absetzen einer vom Lombardischen beeinflussten westtrentinischen Gruppe bemerkbar macht,28 während das bekanntlich dem Venedischen nahestehende Osttrentinische (sei es in Form der bereits weiter oben angesprochenen, vicentinisch beeinflussten Dialekte der Valsugana oder der feltrinisch geprägten Mundarten des Primiero) auch näher am Zentraltrentinischen zu liegen kommt.29
Karte 9: Ähnlichkeitskarte zum Zentraltrentinischen (Val Lagarina)

Der oben angesprochenen Frage nach einer allfälligen Binnengliederung des Etschtals kann auch mittels eines anderen dialektometrischen Kartentyps, der sogenannten Schottenkarte, nachgegangen werden. Selbige operiert – im Gegensatz zu den bisher gezeigten Karten – nur mit den Distanzwerten räumlich angrenzender, also direkt benachbarter Messpunkte. Repräsentiert man diese nun graphisch durch mehr oder weniger starke und zudem eingefärbte Polygonseiten, so entsteht ein Schotten- oder Wabenkarte genannter Kartentyp, der im Beobachtungsraum vorhandene Isoglossen bzw. quantitative Isoglossenbündelungen aufzeigt.30 Auf Karte 10 ist nun gut erkennbar, dass lediglich der West- und der Ostteil des Trentino durch verschiedenste (dicke und blau eingefärbte) Abschottungen zerklüftet erscheint, während im Zentralbereich (Etschtal) zwischen den Nachbardialekten nur minimale Distanzwerte (3–9 Prozent) auftreten. Die deutlichsten Isoglossenbündelungen zeigen sich am Rande des Westtrentinischen Judikariens und der Val Rendena, das sich sowohl von den Dialekten des Sulzbergs als auch von jenen des Etschtals und des Gardasees abschottet und dabei maximale Distanzwerte von über 30 Prozent verzeichnet.
Karte 10: Schottenkarte (quantitative Isoglossensynthese)

4 Clusteranalytische Erkenntnisse
Die dendrographische oder Stammbaum-Analyse, eine der komplexeren Methoden innerhalb der Dialektometrie, erlaubt es, an der Oberfläche liegende Muster, wie sie etwa anhand der Ähnlichkeitsprofile oder der Schottenkarte ersichtlich werden, durch das Herausarbeiten bedeutend tiefer liegender Strukturen zu ergänzen. Auf den Karten 11 bis 15 sind nun fünf, in unterschiedliche Tiefen vordringende, klassifikatorische Einblicke in jeweils zweifacher Form abgebildet. In der unteren Bildhälfte findet sich ein Stammbaum (dessen eingefärbte Äste Dendreme genannt werden), auf der Karte darüber werden die Ramifizierungen des Baumes in Form analog eingefärbter Flächen (sogenannter Choreme) in den Beobachtungsraum umgelegt.31
Karte 11: Dendrographische Analyse (zwei Cluster)

Verfahrenstechnisch wurden unsere dendrographischen Analysen mithilfe eines von Joe H. Ward Jr. (1963) entwickelten, zur Gruppe der hierarchisch-agglomerativen Verfahren zählenden Algorithmus durchgeführt. Dabei werden – ausgehend von der Anzahl N der untersuchten Objekte (das sind in unserem Fall die 67 durch die Blätter des Stammbaums repräsentierten Varietäten) – Schritt für Schritt Gruppen gebildet, wobei unter Berücksichtigung aller möglichen Objektkombinationen jeweils nur jene Objekte zu Clustern fusioniert werden, bei deren Gruppierung die durchschnittliche Ähnlichkeit zwischen den Objekten möglichst hoch bleibt. Beim Gesamtdurchlauf einer Clusteranalyse müssen alle Objekte einer Klasse zugeordnet werden, sodass im Endeffekt alle N Objekte zu einem einzigen Cluster fusioniert werden können. Dieses stellt die Ausgangsbasis für eine mögliche Interpretation der Stammbäume dar. Dabei wird von der Wurzel des Dendrogramms bzw. vom Stamm des Baumes ausgegangen, um die Fusionen in der Gegenrichtung Schritt für Schritt nachzuzeichnen. Diese Herangehensweise entspricht in diachroner Hinsicht einer Nachmodellierung der im Laufe der sprachgeschichtlichen Entwicklung unseres Raumes stattgefundenen Ausgliederungsprozesse. Je näher die beobachteten Klassen bei der Wurzel des Baumes liegen, desto heterogener sind sie und desto früher erfolgte ihre Ausgliederung aus einer hier modellhaft angenommenen vulgärlateinischen bzw. protoromanischen Ureinheit.
Karte 12: Dendrographische Analyse (vier Cluster)

Ad Karte 11: Hierauf ist der erste, und somit älteste, in unserem Gebiet wirksam gewordene Ausgliederungsprozess dargestellt. Dabei zerfällt die imaginäre Ureinheit in ein (in blauer Farbe signiertes) Cluster (1), das sich aus dem Standardfranzösischen, dem Westtrentinischen und dem Fassa-Ladinischen zusammensetzt,32 und in ein (rot eingefärbtes) „italoromanisches“ Restcluster (2), das die übrigen (bekanntlich dem Italienischen besonders nahestehenden) Dialekte des Trentino sowie den standarditalienischen Kunstpunkt selbst umfasst.
Karte 13: Dendrographische Analyse (sechs Cluster)

Ad Karte 12: Zwei Ausgliederungsschritte später spaltet sich von der erstgenannten Gruppe ein dolomitenladinisches Subcluster (1) ab, während Französisch und Westtrentinisch/Ostlombardisch noch gemeinsam in einer Gruppe (2) verbleiben. Das Mehrheitscluster zerfällt hingegen in Noce-Romanisch (4) und in den zentral- bzw. osttrentinischen Rest (3).
Ad Karte 13: In weiterer Folge kommt es zur Loslösung des Französischen (2) sowie zur Differenzierung in Osttrentinisch (4) und Zentraltrentinisch (5), sodass die 67 Objekte nunmehr in sechs Gruppen gegliedert erscheinen.
Karte 14: Dendrographische Analyse (acht Cluster)

Ad Karte 14: Differenziert man die trentinische Sprachlandschaft in acht Cluster, so kommt es zu einer Zweiteilung des osttrentinischen Blocks in die Dialekte der Valsugana inkl. Standarditalienisch (4) und in jene des Primiero und des Fleimstals (5). Darüber hinaus teilt sich auch das Noce-Romanische in Solandrisch (7) und Anaunisch (8) auf.
Karte 15: Dendrographische Analyse (zehn Cluster)

Ad Karte 15: Wenn wir die Geschichte der Ausgliederungen noch zwei Schritte weiter verfolgen (und somit insgesamt zehn Sprachgruppen bilden), wird einerseits die gesonderte Klassifikation des Italienischen (4) und andererseits die Trennung des Nordosttrentinischen in die Dialekte des Primiero (6) und jene des Fleimstals (7) erkennbar. Alle übrigen Gruppen bleiben stabil. Dies gilt auch bzw. v.a. für die (auf Karte 15 gelb eingefärbte) Großgruppe des Zentraltrentinischen (8), das übrigens noch einige Ausgliederungsschritte lang (die bereits sehr kleinräumige Differenzierungen wie etwa jene in Oberfassanisch/cazet und Unterfassanisch/brach ergeben) kompakt bleibt. So gesehen bestätigen die clusteranalytischen Resultate die sich bereits anhand der Oberflächenstrukturen (siehe Ähnlichkeitsprofile) abzeichnende Bildung einer einzigen dialektalen Gruppe im Bereich des trentinischen Zentralraums.
Karte 16: Ähnlichkeitskarte zum Standardfranzösischen

5 Fazit
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sowohl die beispielsweise über die Sichtung der Ähnlichkeitsprofile gewonnenen Oberflächeneindrücke im Allgemeinen als auch die dendrographische Tiefenanalyse im Besonderen äußerst plausible Klassifiktionsergebnisse liefern und neben der Bestätigung von zumeist auf rein qualitativer Basis erstellten, „traditionellen“ Raumbefunden auch die kritische Hinterfragung und Beleuchtung divergierender Lehrmeinungen zur Arealgliederung erlauben. Dies gilt, auf das Trentino bezogen, in erster Linie bezüglich der allfälligen Wirkkraft einer im Etschtal liegenden „Sprachgrenze“ oder aber hinsichtlich einer immer wieder postulierten und vielfach auch (sprach-)politisch instrumentalisierten „Ladinität“ des Noce-Romanischen.
Anmerkungen
1 Cf. Banfi et al. 1995.
2 Im Sommer 1992 hatten wir ja auf Sizilien im Rahmen gemeinsamer Enquêten die ersten VIVALDI-Daten zusammengetragen (cf. dazu Bauer 1995 und Kattenbusch 1995).
3 Cf. den explizit diesem Thema gewidmeten Beitrag Bauer 2003 sowie id. 2009, 263–284.
4 Der dolomitenladinische Sprachatlas (ALD) stellt übrigens eine weitere zentrale Berührungsfläche zwischen dem Autor dieser Zeilen und dem Festeggiato dar, wobei unsere erste Kontaktaufnahme mehr als ein Vierteljahrhundert her ist und auf die Mitte der 1980er Jahre zurückreicht, auf eine Zeit also, in der wir uns u.a. regelmäßig zu sogenannten Transkriptionsseminaren im ladinischen Kulturinstitut in St. Martin in Thurn trafen (cf. dazu beispielsweise Kattenbusch/Goebl 1986 oder Bauer 1990).
5 Eine kommentierte Bibliographie zur Geschichte der romanistischen Dialektometrie mit besonderer Berücksichtigung der „Salzburger Schule“ findet sich in Bauer 2009, 19–84.
6 Im Vergleich zur Dialektometrisierung des gesamten Beobachtungsraumes (220 Messpunkte, gut 4.000 Arbeitskarten) mussten hier rund 700 Arbeitskarten ausgeschieden werden, da im Trentino bezüglich der auf diesen Karten untersuchten sprachlichen Merkmale keinerlei Variation feststellbar war und folglich die Berücksichtigung solcher (= mononymer) Karten unweigerlich eine Verfälschung der Ähnlichkeitswerte zur Folge gehabt hätte. Zum Aufbau und zur Strukturierung unseres Großcorpus (Datenmatrix mit über 880.000 Zellen) cf. Bauer 2009, 158–198.
7 Zu den kartographischen Prinzipien der Polygonkarten, zu den (mehr oder weniger gewichtenden) Ähnlichkeitsmaßen, zur Intervallisierung der Ähnlichkeitswerte (die meist an den Polwerten, am arithmetischen Mittelwert oder am Median orientiert sind) sowie zur Funktionsweise dialektometrischer Ähnlichkeitskarten im Allgemeinen cf. im Detail Bauer 2009, 91–113.
8 Das Standarditalienische ist im Südosten von Karte 1 durch das weiße Polygon mit der Nr. 999 abgebildet, auf das durch einen roten Pfeil verwiesen wird.
9 Die genannte Spannweite gilt dabei für unser (bekanntlich zu mehr als zwei Dritteln von phonetischen Merkmalen geprägtes) Gesamtcorpus, während eine Analyse nach rein lexikalischen Kriterien (525 Arbeitskarten) bedeutend höhere „Italianitätswerte“, nämlich 58 bis 81 Prozent ergibt. Zu diesem Romania continua-Effekt cf. Bauer 2009, 227.
10 Siehe das mit weißem Strichraster versehene, dunkelblaue Polygon (Legende Intervall [1]) mit der Nr. 888 im äußersten Südwesten von Karte 1. Das Standardfranzösische tritt übrigens auf allen (66) Ähnlichkeitsprofilen unseres Netzes als Antipode der jeweiligen Prüfbezugspunkte auf, was seine dezidiert heterosystematische Stellung im gewählten Beobachtungsgebiet verdeutlicht. Dies gilt, von einer einzigen Ausnahme abgesehen, auch für das rein lexikalische Corpus. Dabei zeigt sich nämlich, dass nicht das Französische (59 Prozent), sondern das Oberfassanische von Ciampedel mit 58 Prozent Ähnlichkeit lexikalisch am weitesten vom Italienischen entfernt ist.
11 Siehe dazu die hellblau eingefärbten Polygone (Intervall [2]) mit den Messpunktnummern 97 (Delba) und 98 (Ciampedel) im äußersten Nordosten von Karte 1.
12 Zur problematischen Klassifizierung der Mundarten von Valsugana und Primiero als Zentraltrentinisch vs. Venedisch-Vicentinisch bzw. Venedisch-Feltrinisch (N.B.: Die genannten Gebiete gehörten ab dem Jahr 811 kirchenpolitisch für beinahe tausend Jahre zur Diözese Feltre und wurden erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts an das Bistum Trient abgetreten!) cf. bereits Bauer 2009, 274–282. Zur Valsugana siehe die rot eingefärbten, unmittelbar um den Prüfbezugspunkt gruppierten Polygone von Intervall [6] auf Karte 1. Dabei handelt es sich um die Ortschaften 115 (Strigno: 72 Prozent Ähnlichkeit mit dem Italienischen), 116 (Castello Tesino: 71 Prozent), 117 (Tezze: 70 Prozent) und 119 (Levico: 72 Prozent). – Wie sich bei der Dialektometrisierung des Italo-Schweizer Sprachatlasses AIS gezeigt hat, gelten ähnlich hohe Italianitätswerte neben dem Trentino v.a. für das gesamte Veneto, während die Werte in der südlich davon (und somit geographisch näher zur Toskana) gelegenen Emilia-Romagna um ca. 10 Prozent niedriger ausfallen (zu den möglichen Ursachen dieser diskontinuierlichen Toskanität cf. Goebl 2008, 58–61), in der Toskana selbst dann aber durchwegs deutlich über 80 Prozent liegen und in Florenz Spitzen von knapp 85 Prozent erreichen (siehe dazu das auf Karte 2 abgebildete Ähnlichkeitsprofil, bei dessen Generierung ich dankenswerterweise auf das unter der Leitung von Hans Goebl in den Jahren 2005 bis 2009 erstellte AIS-Corpus zurückgreifen konnte).
13 Siehe dazu die Verteilung der lachsfarbenen Polygone auf Karte 1 (= Intervall [5]: 65–69 Prozent).
14 Siehe dazu die grün eingefärbten Polygone auf Karte 1 (= Intervall [3]: 50–62 Prozent).
15 Cf. dazu bereits Heilmann 1955. – Auf Karte 1 siehe dazu die unmittelbare Nachbarschaft bzw. die Nord-Süd-Abfolge der Intervalle [2] (hellblau: PP. 97–98), [3] (grün: PP. 99–101), [4] (gelb, P. 102) und [5] (lachsfarben, PP. 104–105).
16 Der Terminus Noceromanisch entstammt dem Titel der Diplomarbeit von Kollmann 1997. Alternativ wird als Sammelbegriff für Nonsbergisch und Sulzbergisch oft Ladino-Anaunisch verwendet; Ascoli (1873) hatte diese Gruppe als Varietà ladine tridentino-occidentali bezeichnet, bezüglich ihrer Ladinität aber folgenden Hinweis angebracht: „[…] la ladinità di Val di Sole risulta più ancora sbiadita che già non sia quella di Val di Non“ (319f.).
17 Intervall [3] (grün) auf Karte 1.
18 Cf. dazu Bauer 2009, 265–269.
19 Siehe dazu die rot signierten, in Intervall [6] zusammengefassten Dialekte der Orte 97 (Delba), 99 (Moncion) und 100 (Vich/Vigo di Fassa) sowie das lachsfarbene Polygon des Intervalls [5] (P. 101, Moena) auf Karte 3.
20 Siehe dazu die grün und gelb signierten Intervalle [3] und [4] auf Karte 3.
21 Siehe dazu die blau signierten Intervalle [1] und [2] auf Karte 3.
22 Siehe dazu die rot, lachsfarben und gelb signierten Intervalle [4], [5] und [6] auf Karte 4.
23 Siehe dazu das grün signierte Intervall [3] auf Karte 4.
24 Im Vergleich mit den Varietäten der (in unserem Raumausschnitt nicht berücksichtigten) nördlichen Dolomitenladinia (Gröden, Gadertal) sinken die Ähnlichkeitswerte gar auf 45 Prozent (cf. dazu die Karten in Bauer 2009, 267 und 270).
25 Die Definition dieser vermeintlichen Sprachgrenze erfolgt dabei auf der Basis weniger Isoglossen (cf. Mastrelli Anzilotti 1992, 8), die nach Auskunft des ALD-I jedoch heute zum Teil nicht mehr gültig sind und die somit auch keinen größeren Einfluss auf die Arealgliederung des Etschtals (im Sinne der Ausprägung einer „Sprachgrenze“) haben können (cf. dazu im Detail Bauer 2003, 112–114). Der Wegfall bzw. die Verschiebung einzelner Isoglossen kann in diesem Zusammenhang auch als Emanation einer progressiven Meridionalisierung des Trentiner Zentralraums gelesen werden.
26 Man betrachte das räumliche Ausgreifen der Intervalle [6] (rot) und [5] (lachsfarben) auf Karte 6, Karte 7, Karte 8 und Karte 9.
27 Siehe dazu die absolut deckungsgleiche Raumverteilung der Intervalle [1] (dunkelblau) und [2] (hellblau) auf Karte 6, Karte 7, Karte 8 und Karte 9.
28 Siehe dazu die nahezu identische Flächenbildung von Intervall [3] (grün) im Westausschnitt von Karte 6, Karte 7, Karte 8 und Karte 9.
29 Siehe dazu die räumliche Verteilung von Intervall [4] (gelb) im Ostteil von Karte 6, Karte 7, Karte 8 und Karte 9.
30 Siehe dazu Karte 10; dort in kalten (i.e. blauen) Farben signierte, dicke Polygonseiten stehen für relativ massive Isoglossenbündel, warm eingefärbte und dementsprechend dünne Lineamente repräsentieren hingegen minimale sprachliche Distanzen zwischen den Nachbardialekten; zu weiteren Details dieses Kartentyps cf. Bauer 2009, 117–124.
31 Zur dialektometrischen Verwendung der beiden auf Brunet 1987 bzw. Goebl 1997 zurückgehenden Termini Chorem (nach frz. chorème) und Dendrem cf. Bauer 2009, 155, zur Clusteranalyse im Allgemeinen und zu den dabei eingesetzten Algorithmen cf. op.cit., 148–157 und 341–353.
32 Das Französische steht (nach Auskunft des auf Karte 16 abgebildeten Ähnlichkeitsprofils, cf. dazu auch Bauer 2010, 15f., 25) dem Westtrentinischen Judikariens mit knapp 35 Prozent Ähnlichkeit unter allen im Trentino beobachtbaren Dialekten am nächsten. Insofern erscheint die frühe Agglomerierung von Französisch, Westtrentinisch/Ostlombardisch (und Dolomitenladinisch) in ein gemeinsames Cluster plausibel.
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