Wer wie die beiden Herausgeber und der mit dieser Festschrift Geehrte in Sachen Dialektaufnahmen herumgekommen ist, für den hat es keinen besonderen Neuigkeitswert, dass sich Dialektaufnahmen zu familiären Großereignissen auswachsen können, bei denen nicht nur gut gegessen und getrunken, sondern auch heftig über Wörter, Lautungen, Konjugationen und Ausdrucksweisen gestritten wird. Das, was am Ende in der wissenschaftlichen Dokumentation publiziert wird, ist nur ein Teil dessen, was während und am Rande einer Dialektaufnahme passiert.

So gibt es zum Beispiel zu jeder Dialektaufnahme eine Vorgeschichte, die erklärt, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ein Mensch mit Fragebogen auf eine auskunftswillige Person trifft. Im vorliegenden Fall fängt diese Vorgeschichte im Jahr 2000 an, als einer der beiden Autoren dieses Beitrags eine Stelle am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin antritt und in den nachfolgenden Jahren Dieter Kattenbusch kennen und schätzen lernt. Der andere Teil der Autorenschaft besucht bei Dieter Kattenbusch im Wintersemester 2001/2002 als Gasthörerin die Einführung in die italienische Sprachwissenschaft. Zu diesem Zeitpunkt kamen sich die Biographien der beiden Autoren bereits gefährlich nahe, kreuzten sich aber noch nicht. Erst im August 2004 begegneten sie sich auf einer Berliner Dachterrassenparty in der Großen Präsidentenstraße, und im August 2005 wurde aus dieser Begegnung eine italienisch-deutsche Ehe.

Als uns die E-Mail zum Festschriftprojekt erreichte, war unsere erste Idee ein kulinarisches Videoprojekt, bei dem noch eine dritte Person beteiligt werden sollte, um z.B. mit der Kamera zu dokumentieren, dass es möglich ist, in Rom die Zutaten für einen Rheinischen Sauerbraten oder Nürnberger Elisenlebkuchen zu besorgen und wie nahe man mit der Zubereitung dem Original kommen kann. Die dritte Person wäre die Cousine der Erstautorin gewesen, die es vor gut einem Jahr u.a. dem Engagement des Geehrten zu verdanken hatte, dass ihr Erasmusaufenthalt an der Humboldt-Universität zu Berlin nicht schon nach wenigen Tagen an für mediterrane Gemüter kaum nachvollziehbaren administrativen Hürden gescheitert ist. Sie hätte Erfahrung gehabt in der filmischen Aufbereitung von Speisen und Gebäck. Dieses Videoprojekt kam wegen jeweils knapper Divergenzen im römisch-helvetisch-berlinerischen Zeit-Raum-Kontinuum leider nicht zustande.

Barbara De Angelis - Portrait


Barbara De Angelis, Dott.ssa, arbeitet als Onlinetrainerin und Italienischlehrerin u.a. für digital publishing (München) und Lernpodium (Wettingen). 2000 laureata in lingue e letterature straniere e moderne an der Universität „La Sapienza“ in Rom mit Schwerpunkt Deutsche und Italienische Linguistik und Fremdsprachendidaktik, 2000 Abschluss der Ausbildung als Lehrerin für Italienisch als Fremdsprache am DILIT International House in Rom, 2009 Erwerb des Zertifikats „Live online Trainer“ der LANCELOT School.
Harald Völker - Portrait


Harald Völker, Dr. phil., Universität Zürich (seit 2009). Verantwortlich für die Linguistiksparte der gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule Zürich organisierten Studiengänge zur Lehrpersonenausbildung Französisch Sekundarstufe 1. 2000–2003 Assistent am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin.

Auf der Suche nach einem Ersatzprojekt kam der Zufall zu Hilfe. Bei der Vorbereitung der Einstiegssitzung einer Lehrveranstaltung an der Universität Konstanz zu den italienischen Varietäten erinnerte sich die zweite Hälfte der Autorenschaft an VIVALDI. Und während der Arbeit mit den Studierenden wurde klar, dass es in VIVALDI noch ein Abruzzenloch gibt. Die Idee war geboren, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden und den Besuch der Eltern/Schwiegereltern aus Avezzano dazu zu nutzen, dieses Loch ein wenig zu stopfen. Die beiden sprechen avezzanese miteinander – und sie sind damit auch in der erweiterten Sippe keine Exoten.

Mit VIVALDI zu Gast in der Familie gibt es eine Menge Gesprächsstoff. Von der ersten misstrauischen Skepsis der Informanten bis hin zu einer Form von Enthusiasmus und Ehrgeiz ist es dabei ein gar nicht so langer Weg. An erster Stelle stehen natürlich die Diskussionen darüber come si dice. So wurde zwischen unseren beiden Informanten lange darüber diskutiert, ob das Lexem carne (Stimulus 47) auch in der Mundart existiert oder ob es ausschließlich das Wort ciccia gibt. Der Schwiegervater war der Meinung, ciccia habe auch in der Mundart eine Konnotation, die Schwiegermutter hingegen vertrat die Ansicht, ciccia sei in der Mundart das gängige Wort für ‚Fleisch‘ und carne nur im Standarditalienischen gebräuchlich. Die Stimuli 100 und 117 waren ebenfalls Thema einer Debatte darüber, ob die Differenzierung donne vs. femmine in der Mundart gemacht wird oder ob das Wort donna nicht ausschließlich der Standardsprache angehört. Auch hier war es die Schwiegermutter, die meinte, donne existiere in der Mundart gar nicht, man sage auch in diesem Fall femmene. Dazu kommen sehr lustige Momente wie im Fall des Stimulus 337 „si munge due volte al giorno“, der wohl insbesondere auf die Umsetzung der Reflexivkonstruktion in der Mundart abzielt, der aber zur spontanen Kurzantwort „la mucca“ geführt hat. Wohlgemerkt „la mucca“, was neben herzlichem Lachen der ganzen Familie eine ausführliche Diskussion darüber zur Folge hatte, ob die Antwort nicht ohnehin besser „la vacca“ gewesen wäre. Ähnliches passierte mit Stimulus 234 „il santo [del paese] si chiama …“, der mit einem knappen „San Bartolommé“ beantwortet wurde.

Zum anderen sorgen die einleitenden Fragen zur Person für Gesprächsstoff. In unserem Fall haben diese Fragen dazu geführt, dass eine Reihe von wenig oder nicht bekannten Familienanekdoten und biographischen Episoden ausführlich besprochen und mit weiterführenden Fragen belegt wurden: Militärdienst, die Zeit im Internat, die Ausbildung zur Krankenschwester. Alle für sich Abend füllend und von großem Interesse für Tochter, Schwiegersohn und die Enkel, und manchmal sogar für den Ehepartner. Es sind dies Momente von oral history, die die Familienhistoriographie zu prägen vermögen. Insbesondere die italienisch-deutschen Enkel können in solchen Momenten großelterlichen Erzählens wichtige Bausteine für ihre italienische Identität sammeln.

Wenn VIVALDI für eine gewisse Zeit Teil der Familie wird, so hat dies darüber hinaus Auswirkungen auf einer dritten Ebene. Sind nämlich die Informanten in ihrem Leben bislang nicht mit der akademischen Welt in Berührung gekommen, so ist die Enquête zwangsläufig auch ein Erstkontakt mit dieser Welt des Hinterfragens und des Ordnens. Denn die Fragebögen, die wir den Informanten vorlegen, können Neugier und Gegenfragen auslösen: Warum interessiert sich eigentlich jemand dafür, wie wir sprechen? Was ist das für ein Buchstabe (phonetisches Zeichen), den ihr da notiert? Warum ist das Pronomen eigentlich an dieser Stelle und nicht woanders? Sprichst du ‚reine‘ Mundart oder bist du von der Standardsprache beeinflusst? Beeindruckt waren wir insbesondere davon, welchen Ehrgeiz und welche Bewältigungskompetenz das Problem des am Ende zu erzählenden Gleichnisses auslöste. Denn relativ schnell war klar, dass ein spontanes Erzählen mit der standarditalienischen Version als Gedächtnisstütze in der Hand definitiv nicht möglich war. Der Einfluss der Standardvarietät war durchschlagend und nicht ausschaltbar. Spontanes Erzählen ohne die Gedächtnisstütze war aber auch problematisch, denn die Erzählung entfernte sich so regelmäßig spürbar von der Vorlage, dass uns die VIVALDI-Redakteure die Aufnahme wohl postwendend zurückgeschickt hätten. Also machten sich die Schwiegereltern samt Tochter daran, das Gleichnis schriftlich ins avezzanese zu übersetzen, und dabei wurde an den Sätzen und Wendungen mit einer solchen Hingabe gefeilt, dass ein Nobelpreiscomité seine wahre Freude daran gehabt hätte. Die Tochter hat sich vor Erstaunen die Augen gerieben und Seiten an ihren Eltern entdeckt, die sie so nicht gekannt hatte.

Wenn also VIVALDI zu Besuch ist am Familientisch, dann kommt also ganz schön Bewegung in die Soziodynamik der Sippe. Das gilt natürlich in besonderer Weise für den Fall, dass Enquêteure und Informanten miteinander verwandt sind. Doch nicht wesentlich anders dürfte es sein, wenn Familienmitglieder des Informanten bei der Enquête mit dabei sind.

Vor diesem Hintergrund und um im Abruzzenloch ein erstes Fähnchen einzustecken übergeben wir dieser Festschrift neben diesem kurzen Kommentar das Rohmaterial zu Avezzano: die Tondateien, die Fragebögen zu den Informanten und die Übersetzung des Gleichnisses. Wir wünschen dir, lieber Dieter, damit alles Gute zu deinem Geburtstag und VIVALDI ein weiterhin gutes Werden und Vorankommen.

La parabola del figliol prodigo in avezzanese